Wann ging er denn endlich? Sie konnte die Situation kaum ertragen. Sie lief wie blind durchs Haus, während er sich auf den Abend vorbereitete. Nackte Panik ergriff sie. Was würde geschehen, wenn er allein unterwegs war? Sie kannte sich selbst kaum wieder. Doch, wenn sie ganz ehrlich war, diese Gefühle waren ihr nicht fremd. Wovor hatte sie solche Angst? Sie war nackt und griff nach ihrem Bademantel. Er sollte sie in dieser Situation so nicht sehen. Schutzlos. Ohne alles. Wie ausgeliefert. Jedoch war das rettende Kleidungsstück total verknotet. Plötzlich war ER da und entwirrte das Stoffknäuel, sie konnte es nicht verhindern. Endlich warf sie sich das Ding über. Sie lief die Treppe hoch und schmiß sich aufs Bett. In diesem Moment fühlte sie sich nirgends sicher. Er war dabei, sich umzuziehen, schick zu machen. Wo wollte er hin, was hatte er vor? Sie wollte sich verstecken, konnte das Warten auf den bevorstehenden Abschied nicht ertragen. Irgendetwas tief in ihr meinte, ihr Überleben hinge von seiner Anwesenheit ab. Es war fast wie eine Todesangst, was sie da spürte. Dabei fiel es ihr selbst meist ausgesprochen leicht, allein etwas zu unternehmen. Wie mochte es dabei IHM gehen? Erst kürzlich gab es dazu eine neue Theorie, die sie mithilfe einer tollen Frau herausgefunden hatte. Sie konnte seine Reaktionen seitdem ein kleines bisschen besser verstehen. Ein Trauma? Es war nachvollziehbar. Verlustangst. Ein Gedanke schoss hoch und alle Energie schien sich in ihrem Kopf zu bündeln. Alles nur Projektion? Ihr eigenes Trauma? Man merkt es nicht, es sitzt ganz tief unten in der verletzen Seele.
Plötzlich stieg eine Erinnerung hoch. Eine Situation vor 11 Jahren fiel ihr ein. Es war in ihrer gemeinsamen Anfangsphase. Sie wohnten schon eine zeitlang zusammen. Plötzlich, an einem Samstag Morgen, sie konnte sich noch haarscharf erinnern an den genauen Tag, eröffnete er ihr, er würde wieder gehen. Heute. Jetzt. Sofort. Obwohl sie die ganzen dreiMonate gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte, brach eine Welt für sie zusammen. Während er treppauf, treppab durch das Haus lief und seine Sachen ins Auto packte, lief sie Amok. Sie versuchte, sein Weggehen zu verhindern. Nach allen Regeln der Kunst. Sie weinte, schrie ihn an, sie klammerte. Erfolglos. Er machte einfach weiter. Sie dachte, sie müsse sterben. Sie schrie, weinte weiter, schüttelte ihn. Keine Reaktion. Wie eine Maschine, wie ein ferngesteuerter Roboter setzte er sein Handeln fort. Ließ sich durch nichts, durch gar nichts beeindrucken. Er packte weiter – und dann war er weg. Einfach so. Verschwunden aus ihrem Leben, verschwunden aus ihrem Traum der großen Liebe. Sie fiel aufs Sofa und empfand dumpfe Leere. Sie war völlig erschöpft. Sie starrte ins Leere und fasste es nicht. Nachdem sie eine lange Weile so gesessen hatte, dachte sie „nur raus“ und rief eine Freundin an, die gerade Ähnliches durchmachte. Gemeinsam fuhren sie in den nahegelegenden Wald und liefen stundenlang herum. Redeten sich den Kummer aus der Seele. Danach fuhr sie an den Fluß. Setzte sich auf eine Band und schrieb ihm einen Brief, nur für sich.
Sie schüttelte sich. Dass diese alte Geschichte immer noch so wirkte! Vielleicht war es auch nur ein Auslöser gewesen und hatte Gefühle ans Licht befördert, deren Ursache noch viel weiter zurück lag. Sie hatte eine Ahnung, der sie aber jetzt nicht folgen wollte. Wie wäre es mit Verzeihen? Schließlich hatte dann ja doch Alles ein gutes Ende genommen. Aber die Lüge damals, die war immer noch präsent. Er hatte ihre empfindsame Seele tief verletzt. Er hatte ihr nichts von seinen Auszugsplänen erzählt, jemand Anderem ja… das konnte sie nicht vergessen. Nicht einfach so.
Sie seufzte ganz tief und kam wieder in die Gegenwart zurück. Sie kauerte auf dem Bett und wartete sehnlichst auf den Moment, dass er endlich das Haus verließ. Dann konnte sie sich ihren Tränen hingeben – ein weiteres Stück verarbeiten- und meist auch schnell mit der Situation abfinden. Bisher war er ja immer wiedergekommen. Viele kleine und große Zeichen der Liebe gab es im Alltag, wenn auch so manche knurrige Bemerkung bei bestimmten Themen. Es war nur IHR Zweifel. Ihre Geschiche. Immer wieder forderte sie diese Bemerkungen heraus. Unbedingt wollte sie Dinge mit ihm besprechen, die ihn nicht wirklich so interessierten wie sie, mit denen sie ihn lieber in Ruhe lies…
Sie schaute aus dem Fenster in die vorbeiziehenden Wolken am Himmel und sah sie als Bild des Lebens, ihres Lebens, jedes Lebens. Alles zog vorbei. Nichts konnte man festhalten. Sie dachte an ihre Freundin, durch die sie zum Schreiben gekommen war. Wie es ihr wohl ging. So lange hatte sie nichts von ihr gehört… nichts wirklich Persönliches. Höchstens mal ganz kurz. Trotzdem war sie ihr ständig eng verbunden. Hörte sie hier und da sprechen, ihre Stimme war ihr sehr vertraut, nicht zuletzt durch die Woche am Meer im selben Zimmer. Manche Verbindungen sind einfach da. Auch wenn man lange nichts voneinander hört. Das unsichtbare Band ist geknüpft und nichts kann es zerreißen. War das von Frau zu Frau anders als von Frau zu Mann? Machte das gerade den Reiz einer Liebesbeziehung aus? Heute, heute würde sie endlich zum Telefonhörer greifen. Heute würde sie sie erreichen, da war sie ganz sicher. Sie war immer die Erste, die von ihren Geschichten erfuhr. Und meistens hatte sie einen wunderbaren Kommentar dazu. Sie war ihr so dankbar dafür! Und sie? Gab zuwenig zurück, fühlte sich immer im Rückstand. War soviel mit ihren eigenen Gedanken und Projekten beschäftigt. Konnte sich schwer auf andere Texte einlassen. Ja, sie hörte gern Persönliches, Gespräche, Kontakt, ja- aber Konzentration auf einen Text, wenn er sie nicht von der ersten Zeile an faszinierte, das fiel ihr schwer. Sie dachte wieder an den besagten Abend, als sie diese Verlustangst besonders deutlich spürte. Noch immer schnürte es ihr die Kehle zu, egal wie sie versuchte, dagegen an zu kommen. Sie konnte nichts dagegen tun.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch… ein Atmen, einen Schnuffelton, leise neben ihr… leise Musik drang an ihr Ohr, Flimmerndes Herz… Lampenfieber. Gitte sang. Nur sehr langsam wurde sie wach, wie nach wochenlangem Schlaf. Sie spürte den Schweiß auf ihrem Rücken. Sie blinzelte, es war noch halb dunkel. Er lag brav neben ihr und griff zärtlich nach ihrer Hand.
War alles nur ein Traum gewesen?