Alles beginnt beim Frühstück
Wir schreiben den 1. September 2014. Wir frühstücken auf der Terrasse. Mein Mann, aktiver Zeitungsleser (inzwischen digital) entdeckt, dass in Rellingen MESSIAH geprobt wird. Sofort bin ich vollkommen aufgedreht. Wann sind die Proben?? Ein Blick ins Internet und die kurz aufgekeimte Idee verliert sofort ihre Energie: Donnerstags…da proben wir ja selbst auch „zuhause“, mit unserer Kantorei. Und Anfang November ist unser Konzert. Mitsingen also wohl nicht möglich. Oder doch? Nach unserem Konzert sind es ja noch 6 Wochen bis zum 13.12., der Aufführung in Rellingen… vielleicht könnten wir danach einsteigen? Wolfgang schreibt flugs eine ausführliche Email an den Kantor, der antwortet sofort, ich rufe an – und schon ist alles perfekt. Wir sind herzlich willkommen. Nur in Kummerfeld müssen wir das noch beichten. Als wir das auf der Chorfreizeit tun wollen, weiß unsere Chorleiterin schon Bescheid. Woher wissen wir nicht…
Dann ist der Tag der ersten Probe gekommen.
Alles ist ganz anders.
Es beginnt schon damit, dass wir mit dem Auto zur Probe fahren und nicht zu Fuß gehen. Als wir am Donnerstagabend zum ersten Mal das Gemeindehaus betreten, rümpfen wir die Nase. Muffiger Geruch kommt uns entgegen. Wir werden jedoch nett empfangen. Wir erklären, warum wir hier sind. Ich schnacke ein paar Takte mit Damen aus dem Alt, gehe dann zum Sopran, werde sehr herzlich eingeladen, mich neben eine ältere Dame zu setzten. „Ich heiße Renate“, stellt sich sich vor- aber die Namen kann man sich nicht merken. Ihren schon, sage ich, denn ich heiße auch so… Und siehe da, ihr Lebensgefährte singt im Tenor, neben meinem Mann 😉
Alles ist anders.
Fast heben wir die Altersstruktur… Aussprache spielt hier weniger eine Rolle und man darf, soll auch ATMEN, nicht, wie wir es kennen, abspannen und die Luft hereinströmen lassen, bloß keinen Ton in den Pausen hören lassen. So sind wir es gewohnt. Hier dürfen wir endlich mal hemmungslos schnaufen, zumindest atmen. Dynamik ist wichtig!
Dann die erste Samstagsprobe, von zehn bis sechzehn Uhr.
Wieder ist alles anders.
Wir lernen ein paar weitere MitsängerInnen etwas näher kennen, den englischen Tenor und Christ, die sich freundlich vorstellt. In der Mittagspause gibt es Leckeres zu Essen, selbst gemacht, mitgebracht. Das Aufräumen erfolgt sehr diszipliniert! Jeder bringt seinen Teller in die Küche. Das gefällt mir. Nach dem Konzert am 13. Dezember wird das gemütliche Feiern im Traditionslokal gegenüber oder beim Griechen ganz in der Nähe stattfinden. Das gefällt mir auch. Aber bis dahin sind es noch 5 Wochen und einige Proben. Auch hier wird nicht das komplette Werk gesungen, zwei Stücke entfallen, aber eben nur zwei. So erweitern wir unser Messias Repertoire.
Der Kantor, Donnerstag noch eher unscheinbar für uns, entfaltet sein Wissen als echter Musikkenner und erweist sich als begnadeter Klavierspieler. Mal eben so spielt er auswendig kleine Passagen aus anderen Stücken. Ach, das klingt so ähnlich wie… und schon lauschen wir seiner genialen Virtousität.
Auch das ist anders und neu.
Spannende Vergleiche mit anderen Komponisten werden uns nahegebracht. Da ist die Rede vom Kontrapunkt und wie er wo gesetzt ist. Er ist in seinem Element, das merkt man. Ich verstehe nur die Hälfte, bin tief beeindruckt. Wie gut, dass wir nach dem ersten Eindruck am Donnerstag nicht aufgegeben haben. Denn nach der ersten Probe fragte ich meinen Mann, ob wir da wohl einen Fehler gemacht hätten? Aber einmal ist keinmal. Wir beginnen, uns einzuleben. Am Ende der Samstagsprobe soll für den ersten Advent geübt werden, wir dürfen wohl um 15 Uhr gehen. Doch es kommt anders. Der Messias macht sich breiter und soll nun auch noch die letzte halbe Stunde ausfüllen, so dass wir bis zum Schluss ausharren und mitsingen dürfen. Die letzte Stunde wird lang, da sie gedanklich schon als frei deklariert war. Aber was tun wir nicht alles, um hier dabei zu sein. Nach und nach verlassen schon Einige den Raum, die ersten um zwei. Das ist hier wohl erlaubt. Auch das Ankommen passiert in Etappen. Bei uns „zuhause“ in Kummefeld: Absolutes NO GO. Alles locker. Dazwischen aber auch Disziplin. Wenn eine Stelle angesagt wird, sind alle da und es wird nicht lange gefackelt. Das wäre bei 90-100 Sängern auch schwierig. Zu guter Letzt gibt es sogar noch einen pastoralen Segen. Ein wunderbarer Text (den lasse ich mir noch geben). Ein schöner Brauch!
Auch anders. Eine Idee zum Weitergeben.
Nur das Stück selbst, die Melodien, Harmonien, die Worte, da lacht unser Herz und die Seele. Das kennen wir nur zu gut. Amen, „Worthy is the lamb“, „All we like Sheep“. Unser Messias! Was ist schon eine andere Interpretation. Interessant und ungewohnt, ja, aber ok. Wo früher Pausenstriche waren, wird jetzt durchgesungen, und wo früher eine lange zusammenhängende Tonfolge erwünscht war, gibt es jetzt Einzeltöne. Wir radieren in den Noten herum, notieren das Neue und passen uns an. Schnell sind wir wieder drin, dank unseren Proben in Kummerfeld. Die Basis ist ja da. Und wir haben unsere Bauchatmung, die richtige Mundöffnung und kommen gut klar. Vieles geht auswendig, obwohl unsere Aufführung schon fast ein Jahr her ist.
Der Kantor trägt nicht selten zur Erheiterung bei, wenn er uns mit ins Bild nimmt: Bitte seid als Schafe nicht zu sensibel! Es gibt keine Schafe am Spieß… Wir sollen einerseits eine geordnete Schafherde sein und doch eine große Masse voller Individuen. Manche behaupten, sagt er, eine Schafherde sei die Spiegelung der menschlichen Gesellschaft- eine große Bewegung – und darin viele individuelle Bewegungen. Das kann ich nachvollziehen.
Wie wir singen sollen, wird uns zum Teil anhand von interessanten Vergleichen erklärt. „All we like sheep“ ist hier Staccato erwünscht, nur nicht bei den Sechzehnteln. Das singt sich auch leichter, sagt der Meister. Einer der seltenen Fälle, wo technische Unterstützung und Interpretation sich die Hand reichen. Von der Quadratur des Kreises ist die Rede – und wenn wir die Interpretation nicht wie gewünscht hinkriegen, heisst es, das klingt wie Persil Werbung, was alle zum Lachen bringt. Ja, ja, sagt OS, ich bin im Schatten des Henkel Konzerns aufgewachsen.
Oder: Das klingt, wie wenn dem Schaf der Rücken gekrault wird, aber es wird nicht gekrault, sondern die Schafe laufen gerade auseinander…
Bei „HIS Joke is easy“ werden wir zunächst auf die äusserst wichtige Tatsache hingewiesen, dass es Joke (wie deutsch gelesen) heißt und nicht <Dschoke> – denn es geht ums Joch und nicht um Schenkelklopfer, sagt er.
„Leute! „ist eine seiner Lieblingsausrufe, wenn das Gesabbel nicht aufhört und die Konzentration zu wünschen übrig läßt. Sechs Stunden, das ist ja auch eine Herausforderung, wenn auch mit 2 kleinen und einer großen Pause. Das „Leute“ klingt ein bisschen beleidigt, und ich kann mich dem Eindruck nicht erwehren, daß er einen sozialpädagogischen Hintergrund hat…ich kenne einige davon.
Insgesamt wir er mir/uns aber heute sehr viel sympathischer, denn er hat echt etwas auf dem Kasten.
So freuen wir uns auf die nächste Probe am Donnerstag und erst recht auf das Konzert am 13. Dezember 2014 um 19 Uhr. Besonders auf die Modulation im Tenor, meine Lieblingsstelle, am Ende vom JOKE bei „HIS burden ist light“, und wenn dann wir Soprane uns in die Höhe schrauben und es heisst : HALLELUJAH!
Wie schön, dass wir dabei sein dürfen!